Leseprobe I:
So um 1780 saß in Varanasi am Ganges, das die Engländer Benares nannten, zwischen dem Munshi und dem Rana Mahal Ghat, täglich ein
sehr alter Mann mit schütterem grauen Haar, in einfachster Kleidung, barfuß in abgenutzten Sandalen. Er kam früh am Morgen, setzte sich vor den mächtigen Mauern der Gebäude vor den Treppen zum Fluss in eine stillere Ecke mit
Blick auf diesen und stellte eine Bettelschale vor sich. Er wusste, das sein Essen immer kam. Es brachten seine Zuhörer, die täglich immer wieder kamen. Er galt als ein ungewöhnlicher Erzähler. Für manche war er ein
Aufschneider, ein seniler alter Bettler und für wenige war er ein heiliger Mann. Denn er sprach voller Weisheit und hatte ein Wissen, das keiner ihm zutraute, wenn er so da saß und wartete. Täglich kamen Kinder zu ihm, aber
auch Markthändler, einige ältere Frauen und Männer, manchmal auch ein als Inder verkleideter Engländer. Dazwischen hörten buddhistische Mönche, Hindipriester und Angehörige anderer Religionen zu, denn er wusste auf jede noch so
komplizierte Frage eine einfache Antwort. Schon oft wurde er nach seiner Herkunft, nach seiner Familie und Leben befragt. Die Antworten waren so vielfältig, das keiner wusste, ob der Alte die Wahrheit sprach oder ihnen nur
Geschichten erzählte. Denn wie konnte einer in einem Leben Familienvater von vier Kindern, Hindipriester, buddhistischer Mönch in den Bergen, christlicher Missionar, Arzt, Lehrer, Beamter, Soldat und Rechtsgelehrter gewesen
sein? Dies war undenkbar und daher unglaublich. Er sagte ja auch immer wieder, das er schon hundert Leben gelebt hatte und alles war. Er ging einst mit Buddha, mit Jesus Christus und mit Mohammed. Von vielen religiösen Meistern
er lernte, bei großen Herrschern diente und die Weltmeere bereiste. Kein Kontinent war ihm fremd. So war er schon Engländer, Araber, ein Schwarzer in Afrika, in Tibet, der Mongolei und im großen chinesischen Reich. Die ganze
Welt lebte in ihm und über alles konnte er berichten. Ob dies alles stimmte, konnte hier keiner sicher wissen, aber kaum einer traute dem alten Hakim zu widersprechen. Selbst dieser geheimnisvolle Engländer, der sich gut
getarnt unter die Inder mischte, war ohne Kritik und von einer großen Neugier gegenüber den Geschichten von Hakim. Immer morgens kamen als erstes die Kinder und einer der Vorwitzigsten ein kräftiger Junge mit runden Äuglein,
die voller Fragen waren. Singla fragte immer das Gleiche: ”Hakim erzähl mir von deinen Reisen.” Der Alte nickte verständig, denn er sah dessen Fernweh in weiten Augen und wusste, das der Junge bald zu wandern beginnen würde, so
wie er einst von zuhause los zog, um seine Welt zu ergründen. Er verstand die Neugierde und den Wandertrieb von Singla. So erzählte er ihm eine Geschichte von seiner Wanderung im Hochgebirge des Himalajas: ”Als ich noch ein
junger Mann war und quer durch Indien gereist war, zog es mich hinauf in die Berge. Aber die Menschen hier waren misstrauisch gegenüber allen Fremden und daher brauchte es immer eine Weile, bis ich mich mit diesen besser
verstand. Dies erschwerte meine Wanderung sehr, zumal es hier auch Wegelagerer gab, die öfters Reisende überfielen, sie ihrer Sachen beraubten und einige auch erschlugen. So schloss ich mich einer Reisegruppe buddhistischer
Mönche an, die mit grösserem Gefolge unterwegs waren zu einem Kloster, das sehr hochgelegen über einem Tal des Himalaja lag. Ich bot mich als Träger an und übernahm die Last eines Pferdes, das kurz zuvor verendet war. Mit den
Mönchen wanderte ich drei Monate und sie erzählten mir von ihrem Leben, zeigten mir ihre Rituale, lehrten mich zu meditieren. Ich sang mit diesen und vollzog alles was diese auch taten. So wurde ich ihr Schüler. Als wir das
Kloster erreicht hatten, wollte einer der Mönche noch weiter hinauf und dem Abt eines noch höher gelegenen Klosters ein besonderes Buch bringen. Da wir inzwischen wie gute Freunde waren, ging ich mit ihm. Er gab mir wärmere
Kleidung und besseres Schuhwerk, denn da oben wurde es immer kälter Bald erreichten wir die Schneegrenze. Du musst dir vorstellen, da ist alles weiß, so weit das Auge reicht ist alles weiß von gefrorenem Wasser. Hier am Ganga
kannst du dir das nicht vorstellen, aber alles Wasser was hier vorbei schwimmt, war an seinem Ursprung gefroren, war weißer Schnee der Berge.”
Inzwischen saßen viele Menschen um Hakim und lauschten seiner Geschichte und ein älterer Inder fragte ihn, wo dies denn genau
gewesen sei? ”Zunächst kamen wir nach Ladakh und danach ging es immer höher und ich habe dort meine Orientierung verloren. Ich folgte nur noch dem Mönch, der den Weg gut kannte. Denn unterwegs kamen wir in kleine Dörfer und die
Menschen verneigten sich vor dem Mönch, beherbergten uns. Sie gaben uns zu essen und immer gab es einen kräftigen Buttertee von der Milch der Yaks, welche unseren heiligen Kühen ähnlich sehen. Da es da oben kalt ist, sind diese
Rinder behaart mit einem dichten Fell. Nach mehreren Wochen langer Wanderungen, die immer steilere Wege hinauf führten, sahen wir eines Tages auf einem hohen Felsen über uns ein Gebäude in der Sonne glitzern. Dort hinauf führte
uns ein schmaler Pfad, der am späten Abend uns ans Ziel führte. Mehrere Mönche begrüßten uns mit Freude und nach einem Mahl übergab ich mich einem langen Schlaf. Am nächsten Tag überblickte ich da oben die ganze Pracht riesiger
schneebedeckter Berge um mich. Es war wie auf dem Dach der Welt, denn viel höher wäre ein Mensch wohl kaum mehr zu wandern im Stande gewesen.
Leseprobe II:
Kommt zur Fähre meines Freundes Shikim, die beide Ufer verbindet. Seht dort drüben, ist er gerade unterwegs! Dort erzähle ich dann
weiter, immer wenn sie auf dem Fluss unterwegs ist” und Hakim zeigte auf diese in der Ferne. Nun wussten alle Bescheid und dies würde sich schnell von Mund zu Mund weiter verbreiten. Denn so etwas spektakuläres verbreitete sich
immer schneller, als die einfachen Nachrichten. Aber heute erzähle ich euch eine Geschichte, die zu diesem Platz passt: ”Das ganze Leben ist ein einziger Fluss von der Quelle zum Meer. Mal schwimmen wir mitten im Strom, mal
gegen den Strom, mal am Rand oder im stilleren Altwasser. Das Wasser fließt immer mit und durch uns. Wenn ihr versucht es zu stauen oder umzulenken, werdet ihr krank oder geht daran zugrunde. Denn das Wasser ist stärker als der
Fels, durch Beständigkeit überwindet es alle Hindernisse. Seid wie der Fluss und lasst euch darin treiben, so wie die Fischer und Händler hier am Fluss. Sie nutzen die Strömungen und den Wind. Schaut die Wolken über uns, auch
sie treiben mit dem Wind, formen sich immer wieder neu oder lösen sich auf. Ein ewiger Kreislauf, der sich fügt den Kräften des Universum.
Die Wolken wandern über den Himmel, wurzeln nirgends, haben keine Bleibe; ebenso die unterscheidenden Gedanken,
die über den Geist hinwegziehen. Sobald der Selbst-Geist erschaut ist, endet alles Unterscheiden.
Dieses Gedicht stammt von dem buddhistischen Lehrer Tilopa, der vor vielen Generationen unter euch lebte. Ein Erleuchteter, dessen
Worte ich einst lauschte und die in mir leben, als wäre ich er.
Höchstes Verstehen übersteigt das Verstehen, höchstes Tun fließt aus ewiger Quelle, ohne anzuhaften.
Höchste Vollendung - Innesein zu verwirklichen, ohne Hoffnung daran zu knüpfen. Am Anfang fühlt der Übende seinen Geist wie einen Wasserfall vorüberstürzen; In der Mitte des Weges fließt er
wie der Ganga ruhig und langsam dahin; zuletzt ist er ein gewaltiges Meer, in dem die Lichter von Tun und Sein in eins verschmelzen.
Habt ihr Tilopa verstanden? Lauscht seinen Gedichten, darin ist der Fluss aller Weisheit, der hinführt zur Erlösung von allen
euren Täuschungen, denen ihr täglich nachrennt. Ein Wunsch nach dem Anderen wechselt sich ab und immer bleibt Leere. Denn alle irdischen Güter nähren nur kurz und zu innerer Fülle gehört nichts, als das Vertrauen in das ICH BIN
des Allmächtigen. Er lebt in jedem von euch und ihr müsst ihn nur zulassen. Schaut in den Fluss, den Himmel oder schließt die Augen und meditiert. Überall ist er zu finden, wo Stille in euch ist.” Hakim sah an der
unkonzentrierten Unruhe, das seine Worte viele nicht verstanden und ihm nicht mehr folgen konnten. Daher schwieg er kurz und begann die Geschichte zu erzählen, auf die alle warteten: ”Vor vielen Leben war ich ein Fährmann, wie
jetzt mein Freund Shikim. Ich lebte in einer Hütte an einem breiten Strom und täglich fuhr ich mit einem breiten Boot mehrmals hin und her. Ich beförderte alle Menschen, Fuhrwerke, Krieger mit ihren Pferden. Alle, die zu mir
kamen und an das andere Ufer wollten. Das Fährgeld reichte gerade fürs Leben, das nicht üppig war. Doch war alles da, die in einer Reuse frisch gefangenen Fische, das Treibholz getrocknet für meinen Herd, Wasser zum Waschen,
Baden und Kochen. Verdursten konnte ich hier nicht und das ewig fließende Wasser reinigte meine Poren. So lebte ich dort zufrieden und bewegte mit der Kraft meiner Muskeln das schwerfällige Wassergefährt hin und her. Der breite
Fluss forderte immer meine volle Aufmerksamkeit, denn er veränderte immer wieder seine Spur. Mal war die Strömung auf der einen Seite stärker, dann wieder auf der Ande ren. Bei Hochwasser war es besonders gefährlich und
erforderte höchste Vorsicht. Im trockenen Sommer bildeten sich Sandbänke, bei denen das Fährboot auf Grund sich setzen konnte. All dies forderte meine totale Aufmerksamkeit. So beobachtete und lauschte ich dem vorbei
strömenden Wasser, hörte in das Plätschern und das Glucksen. Darin vernahm ich Stimmen, die alle Geschichten mir erzählten, die das Leben vom Anfang aller Zeiten schrieb. In den Wellen war alles gespeichert und es lag an mir,
ob ich hinhörte. So filterte ich das Leben aus dem Fluss und das fließende Wasser wurde meine Musik. Lauscht selber hier in den Ganga, hört ihr dessen Musik?” Sein Blick ging in die Schar seiner Zuhörer und dort nickten
einige, als hätten sie ihn wirklich verstanden. Andere drehten ihre Ohren und versuchten etwas im Wasser zu hören. Hakim sah ihnen belustigt zu und reichte seine Schale über den Bootsrand. Die Leute verstanden und gaben etwas
für den Hunger des Alten. ”Erzähl weiter, was sagte der Fluss” rief ein Kind und alle nickten und forderten den Alten auf, weiter zu reden. Hakim aß langsam aus der Schale, denn eine Pause steigerte die Spannung und er
wusste genau, wie lange er warten durfte. Bevor sich einer entfernte, sprach er weiter: ”Oh, der Fluss erzählte mir tausende Geschichten. Aber eine davon, die will ich euch mitteilen: In jedem fließenden Wasser leben Geister,
die die Seelen nähren und versorgen auf dem Weg zum Meer. Eines dieser Geistwesen war die Wassernymphe Aglaia, die alle begleitete, die im Fluss badeten oder in ihm schwammen. Sie wusste immer, wenn ein Schwimmer dem Ertrinken
nahe war. Diesen begleitete sie, hob ihn und schob ihn zum Ufer. Aber wenn diesem seine Kräfte versagten, weil er zu viel wagte und die Kraft der Strömung unterschätzte, dann war sie bereit diese Seele zu führen auf des Flusses
Grund. Aglaia war eine gute Nymphe ohne Absicht, sie liebte Mensch und Tier. Wer ihrer feinen Stimme lauschte, den trug sie schützend durch die Fluten. Doch auch eine Nymphe hat ihre Aufgaben in ihrem nassen Reich. Bekam sie
einen Ertrinkenden, erfüllte sie ihren Auftrag. An einer Stelle des Flusses badete täglich ein wunderschöner Mann, um den Aglaia immer wieder schwamm. Sie beschützte ihn vor mächtigen Strudeln, die dieser kräftige Schwimmer
gerne durchschwamm. Sie war verliebt in diesen schönen Mann und wollte sich für dessen Glück opfern. Andere Wassernymphen, die ihre Leidenschaft sahen, warnten Aglaia vergeblich. Denn wer sich in Menschen verliebte, verlor
alle seine geistigen Kräfte. Aglaia war blind vor Liebe zu diesem Jüngling und träumte wie eine menschliche Frau von Fleisch und Blut. Ihre Phantasie nahm Formen an und so materialisierte sie sich für einige Minuten in eine
bezaubernde Frau. Sie schwamm nackt neben dem Mann. Aber diese wunderte sich nur ....
|